Europarechts-News Juli 2023
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Europarechts-News Mai 2023
Inhalt: Wettbewerbsrecht (vertikale Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Sektor, Revidierte Leitlinien), Bankrecht (gemeinsame Einlagensicherung, Bankenabwicklung), Regulierung der Märkte für Kryptowerte, Datenschutzrecht (Abberufung von Datenschutzbeauftragten), Beihilferecht (Kraft-Wärme-Koppelung).
(1) Wettbewerbsrecht: Vertikale Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Sektor verlängert und Revision der Ergänzenden Leitlinien
Die Europäische Kommission hat die Vertikale Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Sektor (VO (EU) Nr. 461/2010) um fünf Jahre bis zum 31.05.2028 verlängert (VO (EU) 2023/822 vom 17.04.2023). Zudem erfolgte eine Revision der Ergänzenden Leitlinien. Damit soll der Kfz-Branche größere Sicherheit zuteilwerden, wie vertikale Vereinbarungen vor dem Hintergrund des EU-Wettbewerbsrechts in rechtlicher Hinsicht zu beurteilen sind.
Vor allem hat es die technische Entwicklung mit einer stärkeren Digitalisierung von Pkws mit sich gebracht, dass den fahrzeuggenerierten Daten künftig in viel stärkerem Ausmaß Beachtung beizumessen ist. Auf solche Daten sollen nicht nur Hersteller der Pkws zugreifen können, sondern auch unabhängige Marktteilnehmer wie freie Werkstätten, Ersatzteilhersteller, Automobilclubs u.a. für die Erbringung von Service-Leistungen, für die Instandsetzung, für die Wartung oder beispielsweise auch für die Herstellung von Ersatzteilen oder Werkzeugen. Der Zugang unabhängiger Marktteilnehmer zu technischen Informationen wurde daher zum Zugang zu wesentlichen Inputs erweitert, die vor allem auch die fahrzeuggenerierten Daten mitumfassen.
Wird in Erwägung gezogen Input, das für die Instandsetzung und Wartung von wesentlicher Bedeutung ist, anderen Marktteilnehmern aus Sicherheitsgründen vorzuenthalten, muss zunächst eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen werden.
Ausführlichere Hinweise für den Prüfungsmaßstab der Europäischen Kommission sind in den revidierten Leitlinien nunmehr auch für Vereinbarungen zu finden, die sogenannte Kernbeschränkungen als schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen enthalten. Der Text der revidierten Leitlinien knüpft hierbei vor allem an Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen an.
(2) Bankrecht: Reform des Krisenmechanismus im Bankensektor und europäische Einlagensicherung
Die Europäische Kommission unternimmt erneut einen Versuch, die Bankenunion in der EU einer Vollendung zuzuführen. Sie hat zu diesem Zweck am 18. April 2023 ein Paket zur Reform des Krisenmanagements im Bankensektor und der Einlagensicherung vorgelegt. Geändert werden sollen formal die europäische Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten (2014/59/EU), die europäische Verordnung über den einheitlichen Abwicklungsmechanismus (806/2014) sowie die europäische Richtlinie über Einlagensicherungssysteme (2014/49/EU).
Aus Sicht der Europäischen Kommission sind letztlich europaweit betrachtet mittlere und kleinere Banken zu selten abgewickelt worden, weil hier häufig auf Mechanismen zurückgegriffen wurde, die außerhalb des harmonisierten Abwicklungsrahmens lagen. Dies solle sich künftig ändern.
In Deutschland sind insbesondere Sparkassen und Genossenschaftsbanken aufgeschreckt, ob damit verbunden wiederum das bewährte Drei-Säulen-Modell und ihre eigenen Institutseinlagensicherungssysteme in Frage gestellt werden sollen. In einem von der Kommission vorgelegten Fragen- und Antwortkatalog wird ausgeführt:
„Um Engpassrisiken bei nationalen Einlagensicherungssystemen möglichst nachhaltig zu verringern, bietet sich nach wie vor eine Vergemeinschaftung solcher Systeme auf gesamteuropäischer Ebene an, da diese dann besser gegen eine Erschöpfung der Mittel gerüstet wären. In den aktuellen Vorschriften ist die Möglichkeit vorgesehen, dass nationale Einlagensicherungssysteme sich gegenseitig auf freiwilliger Basis Kredite gewähren. In Ermangelung einer politischen Einigung über die Einrichtung eines europäischen Einlagenversicherungssystems kann die heutige Reform die Gefahr von Engpässen bei nationalen Einlagensicherungssystemen allerdings nicht vollständig ausschließen. Nach Angaben der EZB gibt es in jedem Mitgliedstaat mindestens eine mittlere oder kleine Bank, bei der im Falle der Erstattung der gedeckten Einlagen das nationale Einlagensicherungssystem vollständig erschöpft würde. Die größte Gefahr von Engpässen bei Einlagensicherungssystemen geht daher von Auszahlungen im Falle einer Liquidation aus.“
In einer gemeinsamen Erklärung haben sich Institutssicherungssysteme der Kreditwirtschaft aus Österreich, Deutschland, Italien, Polen und Spanien umgehend zu Wort gemeldet. Sie verlangen für die weiteren Verhandlungen über das Gesetzespaket, dass die Funktionsfähigkeit ihrer Systeme auch bei einer Reform des Krisenmechanismus aufrechterhalten bleibt. Sie fordern ganz im Rahmen des auch vom EU-Recht ausdrücklich anerkannten und justitiablen Subsidiaritätsgedankens, dass Maßnahmen ihrer Sicherungssysteme weiterhin Vorrang vor Maßnahmen einer Abwicklungsbehörde haben müssen. Zudem müsse bei der Anwendung von Präventivmaßnahmen zwischen reinen Einlagensicherungssystemen und solchen Einlagensicherungssystemen unterschieden werden, die unter EU-Recht als Institutssicherungssysteme anerkannt seien. Für letztere sollten die derzeitigen Bestimmungen über die Verwendung der Mittel aus der Finanzierung von Einlagensicherungssystemen beibehalten werden (Art. 11 der Richtlinie über Einlagensicherungssysteme).
Jedenfalls soll nach Plänen der EU die Deckungshöhe von 100.000 € pro Person und Institut für einen Einlagenschutz bestehen bleiben, in Ausnahmefällen etwa bei bestimmten Ereignissen wie z.B. Erbschaft soll dieser auch darüber hinausreichen. Auch öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser sollen vom Einlegerschutz profitieren können.
(3) Crypto Assets: EU-weite Regulierung der Märkte für Kryptowerte (Markets in Crypto Assets – MiCA)
Das Europäische Parlament hat am 20. April 2023 in erster Lesung einen Regelungsrahmen in Form einer europäischen Verordnung für Kryptowerte einschließlich Kryptowährungen gebilligt. Geläufig ist das Regelungsinstrument unter dem englischen Begriff Markets in Crypto-Assets = MiCA Verordnung. Bei Zustimmung durch den Rat und Verkündung im EU-Amtsblatt gelten damit EU-weite Regelungen für Kryptowerte, die nicht schon von den bestehenden Regeln im Finanzdienstleistungssektor erfasst werden. Nach Maßgabe der vorgesehenen Bestimmungen sollen Krypotwertetransaktionen reguliert werden, eine stärkere Transparenz soll greifen. Vorgesehen sind insbesondere Regelungen über die Aufsicht, den Verbraucherschutz und den Umweltschutz. Die Bekämpfung der Kriminalität und der Geldwäsche im Besonderen sind ein wesentliches Ziel der vorgesehenen Regelungen. Um einen Anreiz zu schaffen, den Energieverbrauch bei der Schaffung und dem Einsatz von Kryptowährungen so weit wie möglich in Grenzen zu halten, ist eine Pflicht für wichtige Dienstleister vorgesehen, ihren Energieverbrauch offenzulegen. Transaktionen von Emittenten und Händlern von Kryptowerten werden künftig nach Maßgabe der neuen Bestimmungen überwacht. Verschiedene Dienstleister im Kryptowertebereich benötigen eine Genehmigung, können dann aber auch über die Landesgrenzen hinweg in der gesamten EU tätig sein. Mit einem Inkrafttreten der beabsichtigten Verordnung kann im Juni 2023 gerechnet werden.
(4) Datenschutzrecht: EuGH, Urt. vom 09.02.2023. C-453/21 (X-FAB Dresden GmbH & Co. KG ./. FC): Abberufung von Datenschutzbeauftragten
Aus deutscher Sicht große Aufmerksamkeit fand ein Verfahren vor dem EuGH, das die Abberufung von Datenschutzbeauftragten betraf. Hintergrund des Vorlageverfahrens des Bundesarbeitsgerichts war, dass ein Datenschutzbeauftragter nach Art. 38 Abs. 3 S. 2 der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) „von dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht abberufen oder benachteiligt werden“ darf. Im nationalen deutschen Recht verweist § 6 Abs. 4 S. 1 des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) stärker einschränkend darauf, dass die Abberufung der oder des Datenschutzbeauftragten nur entsprechend § 626 BGB zulässig ist, das heißt es müsste ein wichtiger Grund im Sinne dieser Norm vorliegen, auf den nach BGB eine fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses gestützt werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Abberufenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung der Tätigkeit des Datenschutzbeauftragten bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Bestellungsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Der EuGH entschied in seinem Urteil vom 09.02.2023, dass die europarechtliche Norm des Art. 38 Abs. 3 S. 2 DSGVO einer strengeren nationalen Norm nicht entgegensteht, sofern die nationale Norm nicht die Verwirklichung der Ziele der DSGVO beeinträchtigt. Dies hat wiederum ein nationales Gericht sicherzustellen.
Zudem äußerte sich der EuGH zum Verständnis des Art. 38 Abs. 6 DSGVO. Danach kann der Datenschutzbeauftragte andere Aufgaben und Pflichten wahrnehmen. Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter hat dabei sicherzustellen, dass derartige Aufgaben und Pflichten nicht zu einem Interessenkonflikt führen. Nach Auffassung des EuGH kann ein „Interessenkonflikt“ dann bestehen, wenn einem Datenschutzbeauftragten andere Aufgaben oder Pflichten übertragen werden, die ihn dazu veranlassen würden, die Zwecke und Mittel der Verarbeitung personenbezogener Daten bei dem Verantwortlichen oder seinem Auftragsverarbeiter festzulegen. Auch dies ist wiederum näher durch die Gerichte der Mitgliedstaaten zu prüfen.
(5) Beihilfenrecht: Anhängiges Verfahren vor dem Europäischen Gericht, Az. T-409/21: Bundesrepublik Deutschland ./. Europäische Kommission in Sachen Kraft-Wärme-Koppelung
Mit Beschluss vom 3. Juni 2021 hatte die Europäische Kommission verschiedene von Deutschland – ggf. vorsorglich – notifizierte Änderungen beim Kraft-Wärme-Koppelungsgesetz (KWKG) gebilligt (Staatliche Beihilfe SA.56826 (2020/N) – Deutschland – Reform 2020 der Regelung zur Förderung der Kraft-Wärme-Koppelung und Staatliche Beihilfe SA.53308 (2019/N) – Deutschland – Änderung der Förderregelung für bestehende KWK-Anlagen (§ 13 KWKG)).
Die Bundesrepublik Deutschland wandte sich daraufhin mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gericht gegen diesen Beschluss, soweit „a) die Förderung der Erzeugung von KWK-Strom in neuen, modernisierten und nachgerüsteten hocheffizienten KWK-Anlagen, b) die Unterstützungen die Förderung von energieeffizienten Wärme- und Kältenetzen, c) die Förderung von Wärme- und Kältespeichern; d) die Förderung der Erzeugung von KWK-Strom in hocheffizienten gasbefeuerten KWK-Bestandsanlagen im Fernwärmesektor und e) die reduzierte KWKG-Umlage für die Hersteller von Wasserstoff nach dem KWKG 2020“ als staatliche Beihilfen angesehen werden.
In dem Verfahren wurde am 4. Mai 2023 vor dem Europäischen Gericht mündlich verhandelt. Deutschland ist hierbei der Ansicht, dass die Kommission Art. 107 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU falsch ausgelegt und angewandt hat. Nach dieser Norm sind, wenn in den europäischen Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.
Im Einzelnen hält Deutschland der Kommission entgegen, dass allein der Abgabencharakter einer (KWKG-)Umlage noch keine Staatlichkeit der vereinnahmten Mittel impliziere. Zudem stellten weder die KWKG-Umlage nach dem KWKG 2020 noch die den Anlagebetreibern von den Netzbetreibern gezahlten Zuschläge eine Abgabe im Sinne der EuGH-Rechtsprechung dar. Weiterhin geht Deutschland davon aus, dass Mittel, die von den Übertragungsnetzbetreibern vereinnahmt werden, nicht unter staatlicher Kontrolle und dem Staat zur Verfügung stehen.
Die Entscheidung aus Luxemburg ist mit Spannung zu erwarten, da die aufgeworfenen Fragen grundsätzlicherer Natur sind und angesichts der häufigen Änderungen des KWKG und sonstiger Normen im Energierecht nicht unerhebliche Auswirkungen haben können, wie weitreichend hier nationale Gestaltungsspielräume bei Förderungsmaßnahmen sind, ohne das Risiko einer Europarechtswidrigkeit einzugehen.
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Europarechts-News Juni 2022
Inhalt: Wettbewerbsrecht (Inkrafttreten der neuen vertikalen Gruppenfreistellungsbestimmungen zum 01.06.2022; Konsultationsprozess zu horizontalen Gruppenfreistellungsbestimmungen; Strommarktliberalisierung)
(1) Wettbewerbsrecht – Neue vertikale Gruppenfreistellungsverordnung und neue vertikale Leitlinien sowie öffentliche Konsultation zu horizontalen Freistellungen
Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) sieht in Art. 101 Abs. 1 u.a. das Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen vor, die den Wettbewerb beschränken. Ausnahmen davon legt Abs. 3 fest, insbesondere wenn sie unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne den Wettbewerb auszuschalten. Unterschieden wird hier zwischen vertikalen und horizontalen Vereinbarungen:
A. Vertikale Vereinbarungen
Eine vertikale Vereinbarung ist nach der einschlägigen EU-Definition eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen zwei oder mehr Unternehmen, die für die Zwecke der Vereinbarung oder der abgestimmten Verhaltensweise jeweils auf einer anderen Stufe der Produktions- oder Vertriebskette tätig sind und die die Bedingungen betrifft, zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen.
Zur Konkretisierung der Regelungen für vertikale Vereinbarungen veröffentlichte die Europäische Kommission am 10.05.2022 die schon lange erwartete neue Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen („Vertikal-GVO“). Mit dieser wurde nunmehr zum 01.06.2022 die bisher gültige Verordnung abgelöst. Ergänzt wird die neue Vertikal-GVO durch neue Vertikal-Leitlinien. Mit den Neuregelungen und den neuen Interpretationshilfen soll u.a. dem zunehmenden E-Commerce Rechnung getragen werden.
Vorausgegangen ist diesen Neufassungen ein Evaluierungsprozess und eine öffentliche Konsultation. Für die Vertragspraxis ergeben sich nun aufgrund der neugefassten GVO und den Leitlinien folgende wesentliche Neuerungen:
• Im dualen Vertrieb, wenn ein Anbieter Waren nicht nur über unabhängige Vertriebshändler, sondern im Wettbewerb dazu auch direkt an Endkunden vertreibt, bleibt ein Informationsaustausch zwar unter gewissen Bedingungen zulässig, allerdings mit stärkeren Einschränkungen als bisher. Dies gilt auch für Hybridplattformen. Dagegen kommt nun auch eine Ausdehnung der Freistellung des Doppelvertriebs auf Großhändler und Importeure in Betracht.
• Einschränkungen hinsichtlich einer Freistellung sind auch in Bezug auf sogenannte Paritätsverpflichtungen auszumachen. Bei Paritätsklausen werden Verkäufer dahingehend verpflichtet, ihren Vertragspartnern Bedingungen anzubieten, die den Bedingungen der Vertriebskanäle Dritter (wie anderen Plattformen) und/oder den Bedingungen der Direktvertriebskanäle des Verkäufers (wie seinen Websites) entsprechen oder besser sind. Auch in solchen Fällen kann nicht mehr durchgehend eine Berufung auf eine GVO-Freistellung erfolgen; die Sachverhalte müssen dann einzeln nach Artikel 101 AEUV geprüft werden.
• Andererseits kommt eine GVO-Freistellung in stärkerem Maße als bislang in Betracht hinsichtlich bestimmter Beschränkungen der Möglichkeit eines Abnehmers, sich aktiv an einzelne Kunden zu wenden (aktiver Verkauf).
• Außerdem werden Doppelpreissysteme nunmehr nicht mehr einfach als Kernbeschränkungen angesehen etwa in Fällen, in denen gegenüber demselben Händler für den Internetvertrieb und den terrestrischen Vertrieb unterschiedliche Großhandelspreise in Rechnung gestellt und für den Online- und Offline-Vertrieb in selektiven Vertriebssystemen unterschiedliche Kriterien festgelegt werden.
Weitere Details und Fallgruppen ergeben sich aus den Leitlinien sowie aus einem zusammenfassenden Vermerk der Europäischen Kommission (Internet-Link: https://ec.europa.eu/competition-policy/system/files/2022-05/explanatory_note_VBER_and_Guidelines_2022.pdf).
B. Horizontale Vereinbarungen
Horizontale Vereinbarungen betreffen dagegen das Verhältnis zwischen Unternehmen derselben Produktions- oder Vertriebsstufe. Hinsichtlich solcher horizontaler Vereinbarungen hatte die Europäische Kommission am 01.03.2022 die interessierten Kreise im Rahmen einer öffentlichen Konsultation aufgefordert, bis zum 26. April 2022 Stellung zu nehmen zu zwei im Entwurf vorgelegten überarbeiteten horizontalen Gruppenfreistellungsverordnungen – und zwar zum einen für den Bereich Forschung und Entwicklung (FuE-GVO), zum anderen für Spezialisierungsvereinbarungen (Spezialisierungs-GVO). Ergänzend hierzu sollen die Horizontal-Leitlinien überarbeitet werden. Unter anderem soll nach Aussagen der Europäischen Kommission Unternehmen eine leichtere Zusammenarbeit in Bereichen wie FuE und Produktion ermöglicht werden durch klarere Formulierungen und die Aufnahme neuer Erläuterungen sowie eine geringfügige Ausweitung des Anwendungsbereichs der Spezialisierungs-GVO.
FuE-Vereinbarungen, die völlig neue Produkte, Technologien und Verfahren betreffen und FuE-Anstrengungen, die auf ein spezifisches Ziel, aber noch nicht konkret auf ein Produkt oder eine Technologie ausgerichtet sind, sollen nach den Plänen der EU-Kommission nur dann von den EU-Wettbewerbsvorschriften ausgenommen werden, wenn genügend vergleichbare konkurrierende FuE-Anstrengungen bestehen. Die Bewertung der Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen in Vereinbarungen soll in einem neuen Kapitel Aufnahme finden. Neu gefasst werden sollen auch die Erläuterungen insbesondere zum heiklen Thema eines Datenaustausches. Abzuwarten bleibt, welche Änderungen oder Ergänzungen der Regelungstexte vor einer Verabschiedung noch erfolgen werden.
(2) Wettbewerbsrecht – Marktliberalisierung: Urteil des EuGH vom 12.05.2022, Rs. C 377/20 (Servizio Elettrico Nazionale)
In diesem Fall wurden dem EuGH Vorlagefragen aus Italien unterbreitet vor dem Hintergrund einer schrittweisen Liberalisierung des dortigen Strommarktes. In einem ersten Schritt wurde zwischen Kunden des geschützten Marktes, zu dem vor allem Privatleute und kleinere Unternehmen zählen, und sonstigen Kunden unterschieden. Beim geschützten Markt handelte es sich um ein reguliertes System mit einem besonderen Preisschutz. In einem zweiten Schritt sollten dann auch die Kunden des geschützten Marktes am freien Markt teilnehmen können.
Im Zuge der Liberalisierung wurden die Erzeugungs- und Verteilungstätigkeiten des ehemaligen Strommonopolisten ENEL entflochten („unbundling“) mit Vergabe verschiedener Phasen des Verteilungsprozesses an unterschiedliche Tochtergesellschaften. Nach einer Untersuchung stellte die italienische Kartellbehörde den Missbrauch einer beherrschenden Stellung durch Tochtergesellschaften, koordiniert durch ihre Muttergesellschaft ENEL, über einen bestimmten Zeitraum fest und verhängte ein gesamtschuldnerisches Bußgeld. Der erhobene Vorwurf bestand darin, dass eine der Tochtergesellschaften versucht haben soll, ihre Kunden aus dem Bereich des geschützten Marktes in wettbewerbswidriger Weise auf eine andere Tochtergesellschaft überzuleiten, die auf dem freien Markt tätig ist. ENEL und die beiden Tochtergesellschaften erhoben Klage, wobei sich im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens der italienische Staatsrat mit Vorlagefragen zu Verdrängungspraktiken an den EuGH wandte.
Der EuGH sah das durch Art. 102 AEUV geschützte Interesse vor dem Hintergrund des dort angeordneten Verbots des missbräuchlichen Ausnutzens einer marktbeherrschenden Stellung im Wohl der Verbraucher. Nachweisen müsse eine Wettbewerbsbehörde, dass eine Verhaltensweise eines Unternehmens in marktbeherrschender Stellung durch den Einsatz von Mitteln oder Ressourcen, die von denen eines normalen Wettbewerbs abweichen, in eine Struktur wirksamen Wettbewerbs eingreifen kann. Auch die Möglichkeit der Eignung zur Wettbewerbsbeschränkung ist nachzuweisen. Die Beweislast reicht aber nicht soweit, dass sie auch den Nachweis der Geeignetheit der beanstandeten Verhaltensweisen mitumfasst, den Verbrauchern einen unmittelbaren Schaden zuzufügen. Das herrschende Unternehmen kann dagegen den Nachweis führen, dass eine etwaige Verdrängungswirkung aus seiner Verhaltensweise durch positive Auswirkungen auf die Verbraucher ausgeglichen oder sogar übertroffen wird.
Aus Sicht des EuGH ist die Beurteilung einer missbräuchlichen Verdrängungspraxis eines Unternehmens in beherrschender Stellung auf der Grundlage der Eignung dieser Praxis zu beurteilen, wettbewerbswidrige Wirkungen zu entfalten. Dagegen muss eine Wettbewerbsbehörde nicht die Absicht des betreffenden Unternehmens nachweisen, seine Wettbewerber durch andere Mittel als die des Leistungswettbewerbs zu verdrängen.
Bei Verlust eines gesetzlichen Monopols muss ein Unternehmen während der gesamten Marktliberalisierung davon Abstand nehmen, auf solche Mittel zurückzugreifen, über die es aufgrund seines früheren Monopols verfügte und die seinen Mitwettbewerbern nicht zur Verfügung stehen.
Der EuGH hatte sich schließlich auch noch mit der Frage zu befassen, inwieweit das Verhalten einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zugerechnet werden kann: Liegt eine beherrschende Stellung einer oder mehrerer Tochtergesellschaften vor, die einer wirtschaftlichen Einheit angehören, und wird diese Stellung missbräuchlich ausgenutzt, so reicht das Bestehen dieser Einheit für die Annahme aus, dass auch die Muttergesellschaft für diesen Missbrauch verantwortlich ist. Hier greift eine Vermutungswirkung, wenn zum relevanten Zeitpunkt zumindest nahezu das gesamte Kapital dieser Tochtergesellschaften unmittelbar oder mittelbar von der Muttergesellschaft gehalten wurde.
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Europarechts-News Juni/Juli 2021
(1) Europäisches Kartellrecht: Unangekündigte Nachprüfungen der Europäischen Kommission bei einem Bekleidungsunternehmen am 22.06.2021
Im Falle mutmaßlicher Verstöße gegen das EU-Kartellrecht kann die Kommission unangekündigte Nachprüfungen durchführen. Zu dieser Vorgehensweise sah sich die Kommission laut einer Pressemitteilung am 22.06.2021 bei einem deutschen Unternehmen der Bekleidungsindustrie veranlasst. Für das Unternehmen gilt bis auf weiteres die Unschuldsvermutung. Es hat das Recht, sich zu verteidigen und im Laufe des Verfahrens gehört zu werden. Eine feste Frist, binnen derer die Untersuchungen abgeschlossen sein müssen, gibt es nicht. Nachdem die Corona-Zahlen zurückgehen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Kommission in Zukunft wieder verstärkt zu solchen Maßnahmen greift, wenn der Verdacht eines kartellrechtswidrigen Verhaltens besteht. Unternehmen sollten auf eine strikte Beachtung der kartellrechtlichen Vorgaben achten und im Bedarfsfall frühzeitig entsprechende Fachexpertise einbinden.
(2) Haftung für wettbewerbswidriges Verhalten: Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in Sachen Sumal, S. L. gegen Mercedes Benz Trucks España S. L., Rs. C-882/19 vom 15.04.2021
In dem beim EuGH anhängigen Fall „Sumal“ hatte sich Generalanwalt Pitruzzella zur Frage zu äußern, inwieweit eine Tochtergesellschaft dazu verpflichtet sein kann, Schäden zu ersetzen, die durch wettbewerbswidriges Verhalten der Muttergesellschaft als alleinige Adressatin der von der Kommission verhängten Geldbuße entstanden sind. Der Generalanwalt nahm hierbei die sogenannte Theorie der wirtschaftlichen Einheit als Ausgangspunkt und betrachtete zum einen die Voraussetzungen, die für eine aufsteigende Haftung der Muttergesellschaft für wettbewerbswidriges Verhalten ihrer Tochtergesellschaften entscheidend wären. Nebst einer wirtschaftlichen Einheit ist hierfür vor allem ein bestimmender Einfluss der Muttergesellschaft erforderlich. Einen solchen bestimmenden Einfluss übe die Tochtergesellschaft aber nicht im Falle des Szenarios einer Haftung für das Verhalten der Muttergesellschaft aus. Allerdings sei der bestimmende Einfluss hierbei eine notwendige Voraussetzung für das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit. Eine Haftung der Tochter komme nun in Betracht, wenn die Tätigkeit der Tochtergesellschaft gewissermaßen für die Verwirklichung des wettbewerbswidrigen Verhaltens erforderlich sei, weil sie zum Beispiel kartellbefangene Güter verkauft habe. Für eine absteigende Haftung müsse die Tochtergesellschaft im selben Bereich tätig sein, in dem die Muttergesellschaft das wettbewerbswidrige Verhalten an den Tag gelegt habe und durch ihr Marktverhalten die Konkretisierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung ermöglicht hätten. Tochter- und Muttergesellschaft hafteten dann gesamtschuldnerisch. Der Geschädigte habe die Wahl, welche Gesellschaft er in Anspruch nehme. Der Entscheidung des EuGH ist nun entgegenzusehen.
(3) Beihilferecht: Urteil des EuG in Sachen Dansk Erhverv ./. Kommission vom 09.06.2021, Rs. T-47/19 (Nichterhebung von Getränkepfand im Grenzgebiet)
Werden Getränke in Einwegverpackungen im Grenzgebiet ausschließlich an Kunden in Dänemark verkauft mit der einzugehenden Verpflichtung, diese außerhalb Deutschlands zu konsumieren und deren Verpackungen zu entsorgen, so sollte nach Ansicht von Behörden in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern keine Pflicht zur Pfanderhebung wie in anderen Fällen bestehen. Dies sah ein dänischer Berufsverband als rechtswidrig an und berief sich auf eine Beihilfe, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist. Die Europäische Kommission gab seiner daraufhin eingelegten Beschwerde aber nicht statt, so dass sich der Verband dagegen mittels einer Nichtigkeitsklage an das Europäische Gericht wandte. In einem Urteil vom 09.06.2021 erklärte das (erstinstanzliche) Gericht den Beschluss der Kommission für nichtig. Vor allem beanstandete das Gericht, dass die Kommission die für eine Beihilfe erforderliche Voraussetzung „staatliche Mittel“ ohne Prüfung verneint hatte, ob Auslegungsschwierigkeiten, auf die sie sich stützte, nur vorübergehend und der schrittweisen Klärung der Vorschriften inhärent waren.
(4) Beihilferecht: Urteil des EuG in Sachen Ryanair ./. Europäische Kommission vom 09.06.2021, Rs. T-665/20 (Entschädigung für Condor)
Das Urteil zum Beihilferecht vom 09.06.2021 auf Betreiben von Ryanair wegen gewährter Entschädigungen an Condor enthält eine ausführliche Anleitung, unter welchen Umständen Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind, gewährt werden können. So müssen Beihilfemaßnahmen geeignet sein, den durch außergewöhnliche Ereignisse verursachten Schaden zu beseitigen und die Höhe des Ausgleichs muss auf das beschränkt werden, was erforderlich ist, um gerade den Schaden auszugleichen, der den durch die betreffende Maßnahme Begünstigten entstanden ist. Zudem bedarf es eines besonders zu prüfenden Kausalzusammenhangs zwischen dem Schaden aus dem fraglichen Ereignis ohne vom Hinzutreten anderer Ursachen abzuhängen. Die Kommission muss hierbei ihre Beschlüsse genau erläutern, damit dies nachvollziehbar ist. Dies sah das EuG im konkreten Fall in wesentlichen Punkten nicht als gewährleistet an.
(5) Produkthaftungsrecht: Urteil des EuGH vom 10.06.2021, Rs. C-65/20 – Krone-Verlag (Kräuterpfarrer Benedikt)
Aus Wien wurde ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH herangetragen, ob eine Tageszeitung, die in einer täglichen Kolumne eine unzutreffende Gesundheitsempfehlung eines unabhängigen Zeitungskolumnisten veröffentlicht hat, auf der Grundlage dessen verklagt werden kann, dass sie ein fehlerhaftes Produkt im Sinne der Produkthaftungsrichtlinie (85/374/EWG) vertrieben habe. Im konkreten österreichischen Fall hatte eine Leserin der Kronen-Zeitung vorgebracht, sie habe dadurch, dass sie der Empfehlung des „Kräuterpfarrers Benedikt“ gefolgt sei, einen Schaden an ihrer Gesundheit erlitten. Statt eine Kren-/Meerrettichauflage bei Rheumaschmerzen gemäß dem Beitrag von zwei bis fünf Stunden anzubringen, wären zwei bis fünf Minuten korrekt gewesen. Der EuGH verneinte eine verschuldensunabhängige Haftung des Zeitungsverlags. Ein Exemplar einer gedruckten Zeitung sei nicht als ein fehlerhaftes Produkt im Sinne der Produkthaftungsrichtlinie anzusehen, weil es nicht um einen dem körperlichen Produkt selbst innewohnenden Fehler gehe, sondern um eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit des geistigen Inhalts, im konkreten Fall in Bezug auf eine Dienstleistung. Allerdings sei dadurch noch nicht gesagt, dass nicht andere Regelungen der vertraglichen oder außervertraglichen Haftung anwendbar sein könnten, die wie die Haftung für verdeckte Mängel oder für Verschulden auf anderen Grundlagen beruhten.
(6) Fremdwährungsdarlehen für Verbraucher: Urteile des EuGH in Sachen BNP Paribas Personal Finance vom 10.06.2021, Rs. C-776/19; C-777/19; C-778/19; C-779/19; C-780/19; C-781/19; C-782/19
Der Sachverhalt dieser Urteile reicht in die Jahre 2008 und 2009 zurück. Verbraucher hatten seinerzeit bei der BNP Paribas Personal Finance Hypthekendarlehen aufgenommen zum Erwerb von Immobilien oder von Anteilen an Immobiliengesellschaften. Die Darlehen lauteten auf Schweizer Franken, waren aber in Euro rückzahlbar. Zwar war das Wechselkursrisiko in den Darlehensverträgen nicht ausdrücklich erwähnt, es konnte ihnen jedoch mittelbar entnommen werden. Nachdem Verbraucher mit der Zahlung der monatlichen Raten Schwierigkeiten hatten, erhoben sie Klage vor der französischen Gerichtsbarkeit. Eine der Kernfragen war hierbei, ob Klauseln der Darlehensverträge, die den Verbrauchern einem unbegrenzten Wechselkursrisiko aussetzen, als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (RL 93/13/EWG) anzusehen sind. Wäre dies der Fall, wären diese nicht bindend und als von Anfang nicht existent anzusehen.
Der EuGH stellte auf Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de grande instance de Paris fest, dass der Antrag eines Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel keiner Verjährungsfrist unterliegt, weil sie bei Missbräuchlichkeit als von Anfang an nicht existent anzusehen ist. Allerdings kann aus Sicht des EuGH national eine Verjährungsfrist vorgesehen werden für eine Klage, mit der die Erstattung geltend gemacht wird, die aus einer Missbräuchlichkeitsfeststellung herrührt. Die Gestaltung darf aber nicht so sein, dass die Verjährungsfrist für die Rückerstattung bereits abgelaufen ist, bevor der Verbraucher die Möglichkeit hatte, von der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel Kenntnis zu nehmen.
Aus Sicht des EuGH ist es nicht transparent, wenn dem Verbraucher bei Vertragsschluss zahlreiche Informationen übermittelt werden, sofern diese auf der Hypothese beruhen, dass der Wechselkurs zwischen der Kontowährung und der Zahlungswährung über die ganze Laufzeit des Vertrages stabil bleiben wird. Angesichts der Kenntnisse der gewerbetreibenden Vertragspartei zum vorhersehbaren wirtschaftlichen Kontext sowie der besseren Mittel, über die die gewerbetreibende Partei zur Vorhersehung des Wechselkursrisikos verfüge, und eines beträchtlichen Wechselkursschwankungsrisikos erkannte der EuGH, dass derartige Klauseln zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches Missverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien aus dem Darlehensvertrag verursachen können.
(7) Individuelle Schiedsvereinbarungen: Schlussanträge von Frau Generalanwältin Kokott vom 22.04.2021, Rs. C-109/20
In ihren Schlussanträgen in der Sache Republik Polen gegen PL Holdings Sàrl hatte sich Frau Generalanwältin Kokott mit der Frage zu befassen, inwieweit die sogenannte Achmea-Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich einer allgemeinen Schiedsklausel in Investitionsabkommen zwischen Mitgliedstaaten zugunsten von Investoren auch auf eine individuelle Schiedsvereinbarung eines EU-Mitgliedstaats mit einem Investor Anwendung finden soll. Konkret hatte der EuGH in Sachen Achmea (Urteil vom 06.03.2018, Rs. C 284/16) festgestellt, dass Schiedsklauseln zugunsten von Investoren in Investitionsabkommen zwischen Mitgliedstaaten mit EU-Recht unvereinbar sind. Andererseits zeigt die Generalanwältin in ihren nunmehrigen Schlussanträgen auf, dass der EuGH auf Privatautonomie beruhende Regelungen zur Handelsschiedsgerichtsbarkeit zumindest in einem gewissen Umfang akzeptiert (Urteile Nordsee Rs. C-102/81 und Eco Swiss Rs. C-126/97), jedenfalls wenn die betroffenen EU-Regelungen nicht grundlegender Natur sind. Den nunmehrigen Ausgangsfall zwischen einem Mitgliedstaat und einem privaten Investor sieht die Generalanwältin im Gegensatz dazu nicht als gleichgeordneten Handelsstreit an, sondern betont den Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse. In der Folge spricht sie sich zugunsten einer umfassenden EU-Rechtskontrolle aus und damit für eine Anwendung der Achmea-Grundsätze auch auf die nun betrachteten Fallkonstellationen. Abzuwarten bleibt, ob der EuGH diesem Votum folgen wird.
(8) Europäisches Datenschutzrecht: Neue DSGVO-Standardvertragsklauseln
Die Europäische Kommission hat neue Standardvertragsklauseln beschlossen, die am 04.06.2021 im Amtsblatt veröffentlicht worden sind (ABlEU L 199, S. 18 ff). Insbesondere gehören hierzu auch solche Musterklauseln für die Übermittlung personenbezogener Daten an Drittländer (S. 31 ff.) – ein Thema, das vor allem im Anschluss an das EuGH-Urteil in Sachen Schrems II vom 16.07.2020 (Rs. C-311/18) noch einmal besondere Beachtung gefunden hat, als der EuGH die Übermittlung personenbezogener Daten in die USA nicht länger auf der Grundlage des sogenannten Privacy Shield als zulässig erachtete. Es besteht nun eine 18-monatige Übergangsfrist, um Verträge aus der Vergangenheit zu ersetzen. Es stehen vier Module zur Verfügung, und zwar Modul I (Übermittlung von Verantwortlichen an Verantwortliche), Modul II (Übermittlung von Verantwortlichen an Auftragsverarbeiter), Modul III (Übermittlung von Auftragsverarbeitern an Auftragsverarbeiter), Modul IV (Übermittlung von Auftragsverarbeitern an Verantwortliche). Die Konferenz der unabhängigen Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder (DSK) geht jedoch in einer Mitteilung vom 21.06.2021 wie auch der Europäische Datenschutzausschuss (EDSA) davon aus, dass trotz dieser neuen EU-Standardvertragsklauseln eine Prüfung der Rechtslage im Drittland nötig ist. Gegebenenfalls sind zusätzlich ergänzende Maßnahmen erforderlich.
(9) Betrieblicher Datenschutzbeauftragter: Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 27.04.2021, Az. 9 AZR 383/19 (A) an den EuGH
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) wurde mit der Frage konfrontiert, ob ein betrieblicher Datenschutzbeauftragter, der zugleich Betriebsratsvorsitzender ist, angesichts des Inkrafttretens der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) von seinem Amt als Datenschutzbeauftragter abberufen werden durfte. Aus Sicht des deutschen Rechts ist für die Abberufung ein wichtiger Grund erforderlich. Die Voraussetzungen nach Europäischem Recht, Art. 38 Abs. 3 S. 2 DSGVO, sind dagegen großzügiger und verhindern eine Abberufung lediglich dann, wenn sie wegen der Aufgabenerfüllung des Datenschutzbeauftragten vorgenommen wird. Das BAG sah nach dem deutschen Recht keinen wichtigen Grund für eine Abberufung und möchte deshalb nun vom EuGH wissen, ob diese nationalen Regelungen neben der europäischen Regelung anwendbar sind und ob damit die Möglichkeit der Abberufung eines Datenschutzbeauftragten gegenüber unionsrechtlichen Regelungen eingeschränkt werden darf. Sollte dies der EuGH ebenso sehen, stellt sich aus Sicht des BAG auch noch die Frage, ob die Ämter des Betriebsratsvorsitzenden und des Datenschutzbeauftragten in einem Betrieb in Personalunion ausgeübt werden dürfen oder ob stattdessen ein Interessenskonflikt im Sinne von Art. 38 Abs. 6 Satz 2 DSGVO vorliegt.
(10) Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht oder Kompetenzüberschreitung? Mitteilung der Kommission vom 09.06.2021 über die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland wegen EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Die Europäische Kommission hat gemäß einer von ihr ausgereichten Mitteilung vom 09.06.2021 gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Deutschland hat hierbei zwei Monate Zeit, um der Kommission zu antworten. Hintergrund hierfür ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 05.05.2020, mit dem das höchste deutsche Gericht das vom EuGH gebilligte Staatsanleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank teilweise als verfassungswidrig eingestuft und insoweit die Rechtswirkung in Deutschland abgesprochen hat. Die Kommission wirft Deutschland vor, dadurch gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts verstoßen und insbesondere den Grundsätzen der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts nicht Genüge getan zu haben. Das BVerfG nimmt dagegen für sich in Anspruch, im Rahmen seiner Rechtsprechung auch zu prüfen, ob Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU die Grenzen ihrer Kompetenzen überschreiten (sog. „ultra vires“-Doktrin). Solche Grenzen resultieren nach seiner Ansicht, auch für den EuGH, aus dem sogenannten „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“. Nach diesem in Art. 5 EUV niedergelegten Grundsatz wird die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der EU nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Die Abgrenzung kann sich im Einzelfall als sehr schwierig erweisen und gibt Raum für viele zusätzliche Rechtsgutachten, vorausgesetzt, dass das Vertragsverletzungsverfahren die Meinungsverschiedenheiten zwischen nationaler und europäischer Ebene nicht ein für alle Mal beseitigen kann – davon ist eher nicht auszugehen.
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Europarechts-News März 2021
(1) EU-Kartellrecht: Kommission verhängt Geldbußen von 7,8 Mio. € in der Videospielbranche wegen Verstoßes gegen das Geoblocking-Verbot
Die Europäische Kommission hat Geldbußen in Höhe von 7,8 Mio. € gegen Valve, Betreiberin der Online-PC-Spielplattform „Steam“, und fünf Verleger von Videospielen (Bandai Namco, Capcom, Focus Home, Koch Media und ZeniMax) verhängt. Sie wirft den Unternehmen vor, dass der grenzüberschreitende Verkauf von Spielen über einen gewissen Zeitraum unter Verstoß gegen das EU-Kartellrecht vertraglich beschränkt worden sei. Konkret hätten Valve und die benannten Verlage mit bilateralen Vereinbarungen zum Geoblocking bestimmter Videospiele den EWR-Markt in rechtswidriger Weise abgeschottet.
Zum einen sei durch geoblockierte Steam-Aktivierungsschlüssel die Aktivierung bestimmter Videospiele in verschiedenen EU-/EWR-Mitgliedstaaten verhindert worden. Zum anderen hätten vier der fünf Verlage (Bandai, Focus Home, Koch Media und ZeniMax) mit bilateralen Lizenz- und Vertriebsvereinbarungen mit einigen Anbietern ihrer Videospiele im EWR – ausgenommen Valve – den grenzüberschreitenden Verkauf innerhalb des EWR beschränkt. Mit solchen Vorgehensweisen seien Verbraucher daran gehindert worden, in einzelnen EWR-Mitgliedstaaten gekaufte Videospiele auf physischen Medien auch in anderen EWR-Ländern zu spielen. Aktivierungscodes hätten nur innerhalb bestimmter Landesgrenzen freigeschaltet werden können, so dass ein Verstoß gegen das Geoblocking-Verbot vorläge. Die Geoblocking-Praktiken sollen rund 100 Videospiele betroffen haben. Bekannt wurde, dass sich zumindest Valve gegen die Entscheidung der Kommission aus verschiedenen Gründen zur Wehr setzen möchte. Unter anderem waren bei den Verlagen die Geldbußen um 10 bis 15 % ermäßigt worden, nicht aber bei Valve. Valve widerspricht dem Vorwurf, anders als die Verlage nicht mit der Kommission zusammengearbeitet zu haben. Möglicherweise wird in einem Gerichtsverfahren über das Ausmaß einer Kooperation mit den Behörden zu befinden sein, ferner über eine Haftung von Plattformanbietern, wenn über deren Plattformen Geoblocking betrieben wird.
(2) Urteil des EuGH vom 03.02.2021 (C-555/19) zum Verbot regionaler Werbung in deutschlandweiten Fernsehprogrammen
Es kommt nicht häufig vor, dass der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht (umfassend) folgt. In seinem Urteil vom 03.02.2021 in Sachen Fussl Modestraße Mayr ./. SevenOne Media GmbH u. a. akzentuierte der EuGH nunmehr stärker als der Generalanwalt, dass das in Deutschland im Medienstaatsvertrag niedergelegte Verbot, im Rahmen bundesweit ausgestrahlter deutscher Fernsehprogramme Werbung nur regional zu zeigen, gegen das EU-Recht verstoßen kann. So kommt ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit in Betracht. Hier sei zu prüfen, ob das Verbot überhaupt geeignet und erforderlich sei. Dies entspricht auch dem Ansatz des Generalanwalts. Anders als dieser sah der EuGH jedoch auch noch die Möglichkeit, dass eine rechtswidrige Ungleichbehandlung von Fernsehveranstaltern und Anbietern von Werbung im Internet vorliegen könnte. Eine solche Vergleichbarkeit hatte der Generalanwalt dagegen noch abgelehnt und als sinnlos angesehen. Das LG Stuttgart ist nunmehr zur weiteren Entscheidungsfindung unter Beachtung der Hinweise des EuGH verpflichtet.
(3) Urteil des EuGH vom 20.01.2021 (C-619/19) zum Zugang zu Umweltinformationen hinsichtlich „Stuttgart 21“
Auch in einem weiteren Verfahren mit Stuttgarter Bezug hat der EuGH jüngst sein Urteil gesprochen. Es geht hierbei um Informationsherausgabeansprüche in Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz im Jahre 2010 anlässlich Baumfällarbeiten für Stuttgart 21. Ein Antragsteller hatte beim Staatsministerium Baden-Württemberg den Antrag auf Zugang zu verschiedenen Unterlagen begehrt und sich letztlich auf die europäische Umweltrichtlinie berufen.
Eine Ausnahme vom umweltrechtlichen Auskunftsanspruch ist aufgrund EU-Richtlinienrechts und des nationalen Umsetzungsrechts dann vorgesehen, wenn bloße „interne Mitteilungen“ vorliegen. Als solche sieht der EuGH nunmehr alle Informationen an, „die innerhalb einer Behörde im Umlauf sind und die zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Zugang, gegebenenfalls nachdem sie bei dieser Behörde eingegangen sind und soweit sie der Öffentlichkeit vor diesem Eingang nicht zugänglich gemacht worden sind oder hätten zugänglich gemacht werden müssen, den Binnenbereich dieser Behörde nicht verlassen haben“.
Der EuGH ist der Auffassung, dass die Anwendbarkeit der Ausnahme vom Recht auf Zu-gang zu Umweltinformationen, die für solche internen Mitteilungen vorgesehen sind, zeitlich nicht begrenzt ist. Allerdings könne sie nur in dem Zeitraum angewandt werden, in dem der Schutz der angeforderten Informationen gerechtfertigt sei. Dies sei in eine Interessensabwägung mit einzubeziehen. Nunmehr ist wieder die nationale Gerichtsbarkeit am Zuge, um den Fall abzuschließen.
(4) Beschluss des BGH vom 11.02.2021, Az. I ZR 241/19 hinsichtlich der Pflicht von Internethändlern, über Herstellergarantien zu informieren
Ausgangspunkt dieses in den Vorinstanzen vom LG Bochum und OLG Hamm entschiedenen Falles ist der Vertrieb von Taschenmessern über die Internetplattform Amazon. Konkret stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit in diesem Zusammenhang nebst einem Hinweis auf eine bestehende Garantie des Herstellers auch noch auf gesetzliche Rechte der Verbraucher hingewiesen werden muss. Während das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, ist das OLG zu einer entsprechenden Verurteilung des beklagten Händlers gekommen. Die einschlägigen deutschen Vorschriften, insbesondere § 312d BGB (hinsichtlich Fernabsatzverträgen), § 479 BGB (zu Garantieerklärungen) und Art. 246a § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 EGBGB (mit der Präzisierung, welche Informationen Verbrauchern zur Verfügung gestellt werden müssen) setzen EU-Richtlinienrecht um. Der BGH hat sich daher dazu entschlossen, dem EuGH entsprechende Auslegungsfragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der EuGH wird sich somit zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 lit. m) der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU äußern müssen. Für Internethändler kann eine solche Entscheidung von weitreichender Bedeutung sein.
(5) Beschluss des OLG Frankfurt a. M. vom 11.02.2021, Az. 26 SchH 2/20, zu einer unwirksamen Schiedsklausel bei unionsinternen Investitionsstreitigkeiten
Unter Hinweis auf die Achmea-Rechtsprechung des EuGH hat das OLG Frankfurt in einem Beschluss vom 11.02.2021 ein auf Antrag einer österreichischen und einer kroatischen Bank gegen die Republik Kroatien eingeleitetes Schiedsverfahren für unzulässig erklärt. Die Grundlage für dieses Schiedsverfahren fand sich in einem bilateralen völkerrechtlichen Investitionsschutzübereinkommen (sog. Bilateral Investment Treaty, BIT). Das OLG sah eine Beeinträchtigung der Autonomie des EU-Rechts, wenn von einer Schiedsgerichtsentscheidung in einer Investitionsstreitigkeit zwischen EU-Mitgliedstaaten EU-Recht betroffen sein kann. Der EuGH hatte bereits am 06.03.2018 (C - 284/16) in Sachen Achmea eine entsprechende Grundsatzentscheidung gefällt. Auf ein Handelsschiedsverfahren, das dagegen auf Privatautonomie beruht, sind diese Überlegungen aber nicht ohne weiteres übertragbar.
(6) Europäischer Rat verabschiedet Maßnahmenbündel für die Erholung der Kapitalmärkte (Änderungen der MiFID II, Prospektverordnung)
Der Europäische Rat hat am 15.02.2021 Änderungen an der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) und an der Prospektverordnung vorgenommen, die zeitnah im Amtsblatt verkündet werden sollen. Bei der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten sodann neun Monate Zeit für eine Umsetzung ins nationale Recht; die Verordnung wird ohne weitere Umsetzung am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung in den Mitgliedstaaten verbindlich sein. Ziel der Maßnahmen ist es, den Unternehmen nach der COVID 19-Pandemie eine Rekapitalisierung auf den Finanzmärkten zu erleichtern. Mit den gebilligten Änderungen der MiFID-II-Vorschriften sollen einerseits Informationspflichten vereinfacht, andererseits aber auch der Anlegerschutz gewahrt werden. Unter anderem ist vorgesehen, dass beispielsweise professionellen Anlegern weniger Informationen über Kosten und Gebühren zur Verfügung gestellt werden müssen. Zudem sollen Anlegerinformationen in Papierform schrittweise abgeschafft werden. Kleinanleger, soweit sie dies wünschen, sind jedoch davon ausgenommen. Vorgesehen ist darüber hinaus in der Prospektverordnung die Einführung eines „EU-Wiederaufbauprospekts“, eine Art Kurzprospekt für vereinfachte und kostengünstigere Kapitalaufnahmen. Damit sollen Emittenten bis Ende 2022 Kapitalerhöhungen von bis zu 150 % der zugelassenen Aktien ermöglicht werden. Der Prospekt darf, ohne Zusammenfassung, 30 DIN-A4-Seiten nicht überschreiten und soll verkürzte Informationen enthalten.
(7) Corona-Beihilfen für Unternehmen der Messe- und Kongressbranche
Für Unternehmen der Messe- und Kongressbranche, die aufgrund der Corona-Pandemie Schäden erlitten haben, können Entschädigungen bezahlt werden. Die Europäische Kommission hat zu diesem Zweck eine Beihilferegelung des Bundes in Höhe von 642 Mio. € nach dem EU-Beihilferecht genehmigt. Eine Förderfähigkeit ist dann gegeben, wenn die einschlägigen Unternehmen im Zeitraum zwischen dem 01.03.2020 und dem 31.12.2020 einen Gewinnausfall erlitten haben und dieser mit den in diesem Zeitraum relevanten Maßnahmen der Länder zur Eindämmung der Ausbreitung der Viruspandemie zusammenhängt.
(8) COVID 19-Pandemie: Impfstoff-Vertrag zwischen der Europäischen Kommission und Sanofi – GSK veröffentlicht
Veröffentlicht wurde im Februar 2021 der Impfstoff-Vertrag („Advance Purchase Agreement“) zwischen der Europäischen Kommission und Sanofi – GSK vom September 2020. Er ist im Internet einsehbar unter https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/apa_with_sanofi_gsk.pdf. Sensible Passagen sind allerdings geschwärzt.
(9) Telekommunikationsrecht: Vertragsverletzungsverfahren gegen 24 Mitgliedstaaten
Die Kommission hat am 4. Februar 2021 gegen Deutschland und 23 weitere EU-Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Kommission macht geltend, dass die Staaten die neuen Vorschriften des Europäischen Kodex für elektronische Kommunikation (Richtlinie EU 2018/1972) nicht fristgerecht umgesetzt haben. Mit diesem Kodex soll eine Modernisierung des Rechtsrahmens im Bereich der Telekommunikationsvorschriften erfolgen. Es sollen ein hoher Standard für Kommunikationsdienste, insb. auch im 5G-Netz-Bereich, erreicht und Verbraucherrechte gestärkt werden sowie die Bedürfnisse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie behinderter oder älterer Menschen berücksichtigt werden. Vor allem ist die Ermöglichung eines wirksamen Wettbewerbs im Fokus der Neuregelungen.
Hierzu hat die Kommission im Dezember 2020 noch ergänzende Rechtsvorschriften verabschiedet wie z. B. eine neue delegierte Verordnung, in der unionsweit einheitliche maximale Anrufzustellungsentgelte festgelegt werden.
(10) BREXIT und EU-Datenschutzrecht: Datenfluss in das Vereinigte Königreich
Die EU-Kommission hat am 21.02.2021 im Hinblick auf die Übermittlung von personenbezogenen Daten in das Vereinigte Königreich (UK) das Verfahren zur Annahme von Angemessenheitsbeschlüssen eingeleitet. Sie hat zu diesem Zweck das Recht und die Praxis des Schutzes personenbezogener Daten im UK nach eigenen Angaben gründlich geprüft, einschließlich des Datenzugriffs durch Behörden. Sie kam hierbei zu dem Ergebnis, dass das im UK bestehende Schutzniveau demjenigen der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) im Wesentlichen gleichwertig ist. Nunmehr hat der Europäische Datenschutzausschuss Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Auch eine Zustimmung der Vertreter der EU-Mitgliedstaaten steht noch aus, bevor die Angemessenheitsbeschlüsse angenommen werden können. Nach vier Jahren soll das Datenschutzniveau im UK erneut geprüft werden. Mit dem Ablauf der BREXIT-Übergangszeit am 31.12.2020 ist das UK grundsätzlich zu einem Drittstaat im Sinne der DSGVO geworden. Allerdings läuft gegenwärtig noch bis zum 30.06.2021 eine spezielle datenschutzrechtliche Übergangsphase, die im Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK im Dezember 2020 vereinbart worden war. Abzuwarten bleibt jedoch, sollte dieser Weg wie skizziert beschritten werden, wie letztlich eine gerichtliche Kontrolle ausfallen wird. Immerhin hatte der EuGH erst am 16.07.2020 in der sogenannten Schrems II-Entscheidung (Az. C-311/18) den von der Europäischen Kommission gefundenen Privacy Shield-Regelungsmechanismus mit den Vereinigten Staaten für unzureichend erklärt. Maßgeblicher Prüfungspunkt könnten Zugriffsrechte von (Sicherheits-)Behörden auf Daten sein.
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Europarechts-News Dezember 2020
(1) Urteil des EuGH vom 24.11.2020 zur internationalen Zuständigkeit im Sinne der EuGVVO bei Vorwurf eines kartellrechtswidrigen Verhaltens (Wikinger Hof)
Ausgangspunkt dieses bemerkenswerten EuGH-Urteils ist der Vorwurf des deutschen Hotels „Wikingerhof“ gegenüber der niederländischen Buchungsplattform „Booking.com“, eine marktbeherrschende Stellung zu missbrauchen. Das Hotel hatte in diesem Zusammenhang Booking.com vor der deutschen Gerichtsbarkeit verklagt und machte kartellrechtliche
Unterlassungsansprüche geltend. Booking.com hielt dem eine internationale und örtliche Unzuständigkeit entgegen und stützte sich u. a. darauf, dass ihr Verhalten durch vertraglich eingegangene Regelungen gedeckt sei.
Das LG Kiel (Az. 14 HKO 108/15 Kart) sah sich als international unzuständig an, weil die Klage aufgrund einer getroffenen Gerichtsstandsvereinbarung in Holland zu erheben sei. Das OLG Schleswig in zweiter Instanz (Az. 16 U 10/17 Kart) ließ die Frage einer wirksamen Gerichtsstandsvereinbarung dahingestellt. Es sah ebenfalls keinen Anknüpfungspunkt für einen deutschen Gerichtsstand und ging davon aus, dass mit der Klage Ansprüche geltend gemacht werden, die einen Vertrag zum Gegenstand haben. Diese Ansprüche seien aber nicht in Deutschland zu erfüllen (Art. 7 Nr. 1 EuGVVO). Der BGH in dritter Instanz hielt es dagegen für erforderlich, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens den EuGH anzurufen um klären zu lassen, ob sich ein Kläger in einem solchen Fall auf den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung im Sinne des Art. 7 Nr. 2 (EuGVVO) berufen kann (Az. C-59/19). Dann wäre, was allerdings abschließend wiederum durch die nationale Gerichtsbarkeit festzustellen ist, im konkreten Fall die deutsche Gerichtsbarkeit zuständig.
Die Große Kammer des EuGH verwies nunmehr in seinem Urteil vom 24.11.2020 darauf, dass es für die Feststellung, ob die Booking.com vorgeworfenen Praktiken nach dem Wettbewerbsrecht rechtmäßig oder rechtswidrig sind, nicht unerlässlich sei, den Vertrag zwischen den Parteien des Ausgangsverfahren auszulegen. In der Folge entschied daher der EuGH, dass die für einen deliktischen Gerichtsstand maßgebliche Zuständigkeitsnorm des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO „für eine Klage gilt, die auf die Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen im Rahmen einer Vertragsbeziehung zwischen dem Kläger und dem Beklagten gerichtet ist und die darauf gestützt wird, dass der Beklagte unter Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht seine marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausnutze.“ Es ist daher davon auszugehen, dass das Klageverfahren in Deutschland seinen Fortgang nehmen wird.
(2) Ausschluss des Widerrufsrechts für Verbraucher für Waren nach Kundenspezifikation auch vor Arbeitsbeginn – EuGH, Urteil vom 21.10.2020, C-529/19
Werden Verbraucherverträge außerhalb von Geschäftsräumen bzw. im Fernabsatz geschlossen, sieht die Verbraucherrechte-Richtlinie 2011/83/EU grundsätzlich ein Widerrufsrecht vor. Eine Ausnahme davon besteht nach Art. 16 lit. c) dieser Richtlinie etwa dann, wenn Waren geliefert werden, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind. In einem Rechtsstreit zwischen einer Verbraucherin und einer Herstellerin von Einbauküchen wandte sich das Amtsgericht Potsdam an den EuGH im Wege einer Vorlagefrage. Es wollte wissen, ob auch dann, wenn der Verkäufer noch nicht mit der Anfertigung nach Kundenspezifikation begonnen hat und die Anpassung beim Kunden selbst vorgenommen werden sollte das Widerrufsrecht dennoch ausgeschlossen ist. Es wollte ebenfalls wissen, ob – gemäß früherer deutscher Rechtsprechung – dabei von Bedeutung ist, wenn sich die Waren mit nur geringen Rückbaukosten, etwa 5 % des Warenwertes, wieder in den Zustand vor der Individualisierung zurückversetzen ließen. Der EuGH sah im Sinne der Rechtssicherheit auch unter solchen Umständen ein Widerrufsrecht nicht als gegeben an.
(3) Begründungsnotwendigkeit: Urteile des EuG vom 23.09.2020, Az. T-411/17, T-414/17 und T-420/17, LBBW, Hypo Vorarlberg AG und Portikon AG
Finanzinstitute müssen im Rahmen der Europäischen Bankenunion Beiträge zum Einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund, SRF) erbringen, die jährlich durch den Einheitlichen Abwicklungsausschuss (Single Resolution Board, SRB) festgesetzt werden. Die LBBW, die Hypo Vorarlberg Bank AG und die Portikon AG (ehemals WestLB AG) hielten die Berechnung des im Voraus erhobenen Beitrags für 2017 für nichtig und erhoben daher Klage zum Europäischen Gericht. Unter anderem führten sie einen Verstoß gegen die europarechtlich normierte Begründungspflicht an (Art. 296 Abs. 2 AEUV). Über diese Klagen hat nunmehr das erstinstanzliche Europäische Gericht in drei Urteilen am 23.09.2020 entschieden. Von den entsprechenden Beschlüssen des SRB waren die Finanzinstitute unmittelbar und individuell betroffen und konnten deshalb Klage erheben. Das Gericht bemängelte, dass die Institute anhand der ihnen gegebenen Begründung nicht in der Lage seien, die Höhe ihrer Beiträge zu überprüfen, obwohl es sich dabei um den entscheidenden Bestandteil des angefochtenen Beschlusses des SRB handele, soweit er sie betreffe. Die Begründung versetze diese Institute in eine Position, in der sie nicht wissen könnten, ob dieser Betrag korrekt berechnet wurde oder ob sie ihn vor dem Gericht anfechten sollten. Das Gericht sah eine inhärente Intransparenz bei der Berechnung der Beiträge.
(4) Europäisches Markenrecht: Urteil des EuG vom 09.09.2020, Az. T-144/19 „Adlon“
Ein Sanitärproduktehersteller wollte sich für Badarmaturen die Marke „Adlon“ beim EU-Markenamt schützen lassen. Dagegen wandten sich die Betreiber des Berliner Hotels Adlon am Brandenburger Tor, die den Namen „Adlon“ als EU-Marke bereits im Jahre 2005 für Hotel- und Restaurationsdienstleistungen schützen lassen haben. Wie bereits das EU-Markenamt, verweigerte auch das erstinstanzliche Europäische Gericht einen Anspruch des Sanitärhauses auf Eintragung einer solchen Marke. Würde die Marke durch das Sanitätshaus für Sanitärprodukte verwandt werden, bestünde die Gefahr, dass Verbraucher diese mit der älteren Marke „Adlon“ für die Beherbergung und Verpflegung von Gästen verbinden und das Sanitätshaus so ohne jede Gegenleistung vom Ruf und der Wertschätzung des Berliner Hotels profitieren könnte.
(5) Generalanwalt beim EuGH zum Verbot regionaler Werbung in deutschlandweiten Fernsehprogrammen
In seinen Schlussanträgen vom 15.10.2020 (Az. C-555/19) kam Generalanwalt beim EuGH Maciej Szpunar zu dem Ergebnis, dass das im deutschen Rundfunkstaatsvertrag enthaltene grundsätzliche Verbot, Fernsehwerbung im Rahmen bundesweit ausgestrahlter Programme regional auszustrahlen, nicht gegen EU-Recht verstößt. Insbesondere stehe dem weder die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (2010/13/EU) entgegen noch der Gleichbehandlungsgrundsatz oder die Freiheit der Meinungsäußerung aus der Charta der Grundrechte. Auch die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) stelle dann kein Hindernis dar, wenn es keine weniger restriktiven Maßnahmen gebe, um den Schutz der Meinungsvielfalt auf regionaler und lokaler Ebene zu erreichen. Abzuwarten bleibt, ob sich der EuGH dieser gut begründeten Einschätzung anschließen wird.
(6) Krypto-Assets: Kommissions-Entwurf für eine europäische MiCA-Verordnung
Die Europäische Kommission legte im September 2020 den mehr als 150-seitigen Entwurf einer europäischen Verordnung zur Regulierung von Krypto-Assets vor („Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on Markets in Cryptoassets“, kurz MiCA). Geschaffen werden soll damit eine weitreichende harmonisierte Regelung von Krypto-Assets auf europäischer Ebene. Bei Krypto-Assets handelt es sich um eine digitale Darstellung von Werten oder Rechten, die elektronisch übertragbar und speicherbar sind, wobei eine Distributed Ledger Technologie (d. h. Technologie mit dezentraler Datenerfassung wie z. B. Blockchain) oder ähnliche Technologie verwendet wird. In der Verordnung sollen EU-weit Erlaubnispflichten, der allgemeine Handel mit Krypto-Assets sowie Aufsichtsbefugnisse geregelt werden. Geplant ist, dass die MiCA-Verordnung Ende 2022 in Kraft tritt. Zu den Krypto-Assets gehören vor allem die auf Blockchain-Basis beruhenden Internet-Währungen „Bitcoin“ und „Ether“. Auch „Diem“ (vor Umbennung: „Libra“) als Projekt von facebook würde von der MiCA-Verordnung erfasst werden. Grundsätzlich würde dann künftig der groben Einteilung nach unterschieden werden zwischen den schon in Kraft befindlichen Regelungen in der MiFID-Richtlinie (Markets in Financial Instruments) und den neu hinzutretenden europäischen Regelungen zur MiCA-Verordnung (Markets in Crypto Assets). Obwohl es sich auch bei sogenannten Security Token – digitalisierte Form eines Vermögenswerts mit besonderem Sicherheitsstatus mittels einer Hardwarekomponente zur Identifizierung und Authentifizierung – auch um Krypto-Assets handelt, sollen entsprechende Security Token Offerings (STO) der MiFID zugeordnet bleiben. Da die MiCA in Form einer europäischen Verordnung erlassen werden soll, wird diese in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar sein.
(7) Deutschlands erster „Commercial Court“ in Stuttgart und Mannheim
Infolge des Brexit und einer damit verbundenen Intensivierung des europäischen Wettbewerbs der Gerichtsstandorte für internationale Großverfahren hat Baden-Württemberg im November 2020 einen neuen Commercial Court mit Dependancen in Stuttgart und Mannheim errichtet. Der Commercial Court ist formal dem Landgericht Stuttgart bzw. dem Landgericht Mannheim zugeordnet. Vor diesem können künftig wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten ab einem Streitwert von EUR 2.000.000 in englischer Sprache verhandelt werden. Urteile, Verfügungen und Protokolle müssen jedoch angesichts § 184 Gerichtsverfassungsgesetz nach wie vor in deutscher Sprache abgesetzt werden. Auch besondere Berufungsspruchkörper sind vorgesehen beim OLG Stuttgart bzw. beim OLG Karlsruhe. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Haver & Mailänder-Beitrag der Rechtsanwälte Dr. Kläger und Dr. Brugger vom 17.11.2020: „Commercial Court in Stuttgart und Mannheim eröffnet“.
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Europarechts-News August 2020
(1) Europäisches Kartellrecht, Urteil des Europäischen Gerichts vom 08.07.2020 (T-758/14 RENV) - Infineon Technologies ./. Kommission
In seinem Urteil vom 08.07.2020 ordnete das erstinstanzliche Europäische Gericht die Herabsetzung einer gegen Infineon verhängten Geldbuße um fast 6 Mio. EUR an. Die Geldbuße von zunächst mehr als 82 Mio. EUR war gegen Infineon verhängt worden wegen Beteiligung an einem Kartell auf dem Markt für Smartcard-Chips. In einem ersten Urteil vom 15.12.2016 hatte das Europäische Gericht diese hohe Geldbuße zunächst bestätigt (T-758/14). Nachdem Infineon Rechtsmittel dagegen eingelegt hatte, stellte der EuGH fest, dass das Gericht nur fünf der elf vermeintlich kartellrechtswidrigen Kontakte geprüft hatte. Wegen unvollständiger gerichtlicher Kontrolle hob der EuGH das erstinstanzliche Urteil durch sein Urteil vom 26.09.2018 teilweise auf (C-99/17 P). Nunmehr stellte das erstinstanzliche Europäische Gericht in seinem neuen Urteil vom 08.07.2020 fest, dass die Kommission die individuelle Beteiligung von Infineon am kartellrechtlichen Verstoß nicht hinreichend berücksichtigt habe und ermäßigte das Bußgeld.
(2) Europäisches Beihilferecht: Durch die Kommission eingelegtes Rechtsmittel zum EuGH (C-211/20 P) gegen das Urteil des Europäischen Gerichts vom 12.03.2020 in Sachen Valencia Club de Fútbol ./. Europäische Kommission
Nachdem das erstinstanzliche Europäische Gericht den Beschluss der Europäischen Kommission über Beihilfemaßnahmen zugunsten des Fußballvereins Valencia CF in einem Urteil vom 12.03.2020 für nichtig erklärt hatte (T-723/16), hat nunmehr die Europäische Kommission am 22.05.2020 Rechtsmittel zum EuGH eingelegt (C-211/20 P). Die Kommission führt hierbei an, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen sei, indem es den Art 107 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union mit einem grundsätzlichen Beihilfeverbot unrichtig angewendet habe, insbesondere hinsichtlich des Nachweises des Vorliegens der Voraussetzung eines Vorteils. Konkret habe das Gericht erstens die Mitteilung der Kommission über die Anwendung der einschlägigen Artikel des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften in Verbindung mit der Mitteilung der Kommission über die Änderung der Methode zur Festsetzung der Referenz- und Abzinsungssätze sowie den streitigen Beschluss unrichtig ausgelegt. Zweitens sei dem Gericht ein Rechtsfehler im Zusammenhang mit der Beweislast für das Bestehen eines Vorteils aus einer einzelnen Bürgschaft sowie mit der Sorgfaltspflicht der Kommission im Rahmen eines förmlichen Prüfverfahrens unterlaufen. Drittens habe das Gericht den Sachverhalt verfälscht.
(3) Glyphosat – Klagebefugnis einer föderalen Gebietskörperschaft: Schlussanträge des Generalanwalts in Sachen Région de Bruxelles-Capitale / Kommission (C-352/19 P)
Die Region Brüssel-Hauptstadt hatte Nichtigkeitsklage beim erstinstanzlichen Europäischen Gericht hinsichtlich der Durchführungsverordnung zur Erneuerung der Genehmigung des Wirkstoffs Glyphosat erhoben. Das Gericht sah diese Klage wegen fehlender unmittelbarer Betroffenheit der Region und damit wegen fehlender Klagebefugnis als unzulässig an (T-178/18). Die Region legte dagegen Rechtsmittel beim EuGH ein. In seinen Schlussanträgen vom 16.07.2020 kommt Generalanwalt Michal Bobek nunmehr zu dem Ergebnis, dass das Gericht die Klagebefugnis der Region zu Unrecht abgelehnt hat (Beschluss vom 28.02.2019, T-178/18). Zwar dürften föderale Gebietskörperschaften Unionsrechtsakte, die ihre Interessen nur in allgemeiner Weise betreffen, nicht anfechten. Im Gegensatz könne aber dann vom Vorliegen einer unmittelbaren Betroffenheit als Voraussetzung einer Klagebefugnis ausgegangen werden, wenn eine unmittelbare Einschränkung der Ausübung einer verfassungsrechtlich zugewiesenen konkreten Befugnis vorliege. Abzuwarten bleibt, ob sich der EuGH dem erstinstanzlichen Gericht oder dem Generalanwalt anschließen wird – die Entscheidung ist auch für deutsche Bundesländer und ggf. auch weitere regionale Gebietskörperschaften von Interesse.
(4) Generalanwalt beim EuGH zum Zugang zu Umweltinformationen hinsichtlich „Stuttgart 21“
Am 16.07.2020 hat Generalanwalt Gerard Hogan dem EuGH seine Schlussanträge zum Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen im Zusammenhang mit dem Projekt "Stuttgart 21" vorgelegt (C-619/19). Der Kern der dem EuGH in diesem Verfahren unterbreiteten Vorabentscheidungsfragen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts betrifft die Auslegung des Begriffs der "internen Mitteilungen" im Sinne von Art. 4 der europäischen Umweltinformationsrichtlinie (2003/4/EG). Wenn ein Antrag auf Erteilung von Informationen „interne Mitteilungen“ betrifft, können nationale Regelungen die Ablehnung eines Zugangs zu Umweltinformationen vorsehen. Allerdings ist hierbei das öffentliche Interesse an einer Bekanntgabe dieser Information zu berücksichtigen.
Konkret hatte ein Antragsteller beim Staatsministerium Baden-Württemberg einen Antrag auf Umweltinformationen gestellt, mit dem er Zugang zu bestimmten Unterlagen des Staatsministeriums begehrte, die im Zusammenhang mit dem Fällen von Bäumen im Stuttgarter Schlossgarten für das Projekt „Stuttgart 21“ standen. Diese Dokumente betrafen zum einen Informationen der Hausspitze des Staatsministeriums über den Untersuchungsausschuss „Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30.09.2010 im Stuttgarter Schlossgarten“ und zum anderen Vermerke des Staatsministeriums zu einem im Zusammenhang mit dem Projekt „Stuttgart 21“ durchgeführten Schlichtungsverfahren vom 10. und 23.11.2010.
Anders als das Staatsministerium und das Verwaltungsgericht sah der VGH Mannheim in zweiter Instanz diese Unterlagen nicht als interne Mitteilungen geschützt an, da ein solcher Schutz in zeitlicher Hinsicht nur für die Dauer eines behördlichen Entscheidungsprozesses bestehe. Das Land Baden-Württemberg wandte sich sodann gegen diese Entscheidung durch Revision zum Bundesverwaltungsgericht, das wiederum den EuGH um Vorabentscheidung einiger wesentlicher Auslegungsfragen im Hinblick auf die „internen Mitteilungen“ ersuchte.
Der Generalanwalt schlug nun dem EuGH vor, als interne Mitteilungen sämtliche Dokumente anzusehen, die an eine andere Person gerichtet sind und den Binnenbereich einer Behörde zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde über den bei ihr gestellten Antrag entscheide, noch nicht verlassen haben. Der Anwendungsbereich soll zeitlich unbegrenzt sein, die vergangene Zeit soll jedoch bei der Interessensabwägung Berücksichtigung finden. Nunmehr ist der EuGH mit seiner Entscheidung an der Reihe, ob er dem Generalanwalt folgen möchte, bevor dann die nationale Gerichtsbarkeit den Rechtsstreit fortsetzt.
(5) Urteile des erstinstanzlichen Europäischen Gerichts vom 08.07.2020 zur europäischen Bankenaufsicht: Von der Europäischen Zentralbank gegen Kreditinstitute verhängte Geldbußen sind teilweise nichtig (T-203/18, T-576/18, T-577/18, T-578/18)
Im Rahmen ihrer Aufsicht hatte die Europäischen Zentralbank (EZB) Geldbußen gegen verschiedene Kreditinstitute verhängt. Auf das Rechtsmittel von betroffenen Kreditinstituten hin erklärte das erstinstanzliche Europäische Gericht diese Bußen teilweise für nichtig.
In der Rechtssache T-203/18 berief sich das betroffene Kreditinstitut auf die Rechtswidrigkeit eines EZB-Beschlusses, mit dem dem Kreditinstitut ein fahrlässiger Verstoß zur Last gelegt wurde, weil es entgegen Art. 77 Abs. 1 lit. a) der europäischen Kapitaladäquanz-Verordnung (VO (EU) Nr. 575/2013) eigene Aktien zurückgekauft habe, ohne vorher die Erlaubnis der zuständigen Behörde eingeholt zu haben. Die EZB verhängte daraufhin eine Geldbuße in Höhe von 1.600.000 Euro, was 0,03% des Umsatzes des Kreditinstituts entsprach. Das Kreditinstitut erhob dagegen Klage und widersprach der Feststellung eines Verstoßes. Zudem sah es die Auferlegung einer Geldbuße als nicht verhältnismäßig an. Schließlich wandte sich das Kreditinstitut auch gegen die Veröffentlichung dieser Geldbuße auf der Internetseite der EZB. Das Europäische Gericht wies sämtliche Klagegründe zurück.
In drei weiteren Beschlüssen, gegen die in den Rechtssachen T-576/18, T-577/18 und T-578/18 Nichtigkeitsklagen erhoben worden waren, hatte die EZB drei Kreditinstituten vorgeworfen, entgegen Art. 26 Abs. 3 der vorgenannten EU-Verordnung Kapitalinstrumente als Instrumente ihres harten Kernkapitals eingestuft zu haben, ohne wiederum die vorherige Erlaubnis der zuständigen Behörde eingeholt zu haben. Dies bewertete die EZB als fahrlässig begangene Verstöße und verhängte Geldbußen. Hier hat das Europäische Gericht die Beschlüsse wegen unzureichender Begründung teilweise für nichtig erklärt. Die angefochtenen Beschlüsse enthielten keine genauen Angaben zu der von der EZB zur Bemessung der verhängten Geldbußen angewandten Methodik, sondern lediglich einige Erwägungen zur Schwere des Verstoßes, zu seiner Dauer und zur Schwere der zur Last gelegten Pflichtverletzung sowie die Zusicherung, dass ein oder mehrere mildernde Umstände berücksichtigt worden seien.
(6) Europäisches Datenschutzrecht: EuGH erteilt in seinem Urteil vom 16.07.2020 der Datenübermittlung in die USA auf der Grundlage des Privacy Shield eine Absage (C-311/18 - Schrems II)
In einem weitreichenden Urteil stellte der EuGH am 16. Juli 2020 auf Vorlagefragen des irischen High Court die Ungültigkeit des Beschlusses 2016/1250 der Europäischen Kommission über die Angemessenheit des vom EU-US-Datenschutzschild („Privacy-Shield“) gebotenen Schutzes fest. Der EuGH begründete dies damit, dass durch diesen Beschluss nicht ausreichend gewährleistet werde, dass übermittelte Daten in den USA dem gleichen Schutzniveau unterfallen wie in der EU. Der Beschluss 2010/87/EU der Kommission über Standardvertragsklauseln für die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer sei dagegen gültig. Allerdings muss hierbei sichergestellt sein, dass die Daten in den Drittstaaten im Vergleich zur EU auf „gleichwertige“ Weise geschützt werden. Zu weiteren Einzelheiten vgl. HAVER & MAILÄNDER-Beitrag von Frau Rechtsanwältin Bettina Backes vom 31.07.2020: „EuGH erklärt Privacy Shield für ungültig – Was heißt dies für Unternehmen?“
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